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Rückenkurse und ein Obstkorb? Über das BGM in Zeiten der Digitalisierung

Personalentwicklung

Von KlinikRente | Fotos: Nils Lucas — 17.07.2018

Rückenkurse und ein Obstkorb? Über das BGM in Zeiten der Digitalisierung

Interview mit Dr. Sabine Woltering, Internistin und Fachärztin für Arbeitsmedizin & Björn Kölking, Personalbetriebswirt VWA

Oft wird die Qualität des Betrieblichen Gesundheitsmanagements in einem Unternehmen an den Krankheitstagen der Mitarbeiter gemessen. Für Dr. Sabine Woltering und Björn Kölking reicht dieser Aspekt nicht aus. Die Arbeitsmedizinerin und der Personalbetriebswirt verfolgen im St.-Franziskus-Hospital Münster einen ganz anderen Ansatz, in dem es um das große Ganze geht: um Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Balance.

KlinikRente: Welche Bedeutung hat das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) aus Ihrer Sicht und was verstehen Sie dabei unter einem ganzheitlichen Ansatz?

Björn Kölking: Ich finde, das BGM hat eine sehr große Bedeutung und einen sehr hohen Stellenwert im Unternehmen. Aber es muss professionell aufgestellt werden, sonst bringt es nichts. Sehr wichtig ist dabei eine ganzheitliche Herangehensweise, also die Berücksichtigung von Verhalten, Verhältnis und System. Das Verhalten sollte sich an den Mitarbeitern orientieren und das Verhältnis zwischen Unternehmen und Arbeitsorganisation muss stimmen. Das System funktioniert nur, wenn diese Komponenten verbunden und gelebt werden.

Dr. Sabine Woltering: Genau. Es geht hier um den ganzheitlichen Ansatz des Unternehmens. Wir orientieren uns dabei am ganzheitlichen Ansatz der Person. Dabei wird die Person als komplexes Ganzes gesehen, in körperlicher Hinsicht, aber auch auf der geistigen und emotionalen Ebene. Im Gesamtkonzept mit dem, was Herr Kölking gerade ausgeführt hat, ist das unser Ansatz, ein ganzheitliches BGM zu implementieren.

In welchen Fällen greift das BGM?

Dr. Sabine Woltering: Dazu muss man sich zunächst einmal klarmachen, was unsere Arbeitswelt uns zeigt: Wir haben eine immer älter werdende Gesellschaft. Und je älter die Menschen werden, desto höher ist eben auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie erkranken.

Ein Ziel des BGM ist unter anderem, nach dem Arbeitsleben beschwerdefreie Lebensjahre zu erreichen, und darauf arbeiten wir schon früh hin. Die Gefährdungen am Arbeitsplatz sind individuell: Ärztinnen und Ärzte haben andere als Personen, die in der Pflege mit Heben, Tragen und psychischen Belastungen konfrontiert sind. Unser Ansatz ist, im Unternehmen individuelle Angebote verschiedenster Art zu erarbeiten. Wir gehen dabei wohlüberlegt und sehr strukturiert vor.

Björn Kölking: Die wichtigen Fragen sind doch: In welcher Welt sind wir aktuell unterwegs? Mit welcher Geschwindigkeit bewegen wir uns und welche Neuerungen kommen auf uns zu? Stichwort Digitalisierung: Wie schafft man es, diese neuen Entwicklungen umzusetzen und die Mitarbeiter daran zu beteiligen? Das ist das Entscheidende. Denn wenn wir die Mitarbeiter nicht ins Boot holen, gehen sie uns unterwegs verloren und es passiert das Gegenteil von dem, was wir eigentlich mit dem BGM erreichen wollen.

Wie kann das BGM die Beschäftigten in Lebenskrisen unterstützen?

Dr. Sabine Woltering: Auch das handhaben wir individuell. Ganz oben stehen für uns die Aufmerksamkeit und die Achtsamkeit der direkten Vorgesetzten. Wenn ich als Führungsperson nicht merke, dass es meinen Mitarbeitern schlecht geht – auf welcher Ebene auch immer –, dann kann ich sie auch nicht unterstützen. Man muss wirklich sehr aufmerksam für seine Umwelt sein und Auffälligkeiten benennen und ansprechen. Wir haben verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten, zum Beispiel eine Sozialberatung oder eine anonyme betriebliche Krisenberatung. Es gibt außerdem noch weitere Ansprechpartner, die aus der Personalabteilung oder aus der Arbeitsmedizin kommen.

Björn Kölking: Es gilt: Weg von der Personalverwaltung, weg vom Verwaltungsblick, hin zum Management. Es geht darum, einen ganzheitlichen Blick zu bekommen und das Führungsverhalten diesbezüglich zu überprüfen. Unser Ansatz ist, alle Führungskräfte auf einem gleich hohen Level zu qualifizieren. Nur dann haben wir überhaupt eine Chance, vorhandene Missstände frühzeitig zu erkennen. Natürlich müssen je nach Situation auch die Kollegen in der Personalabteilung sensibel dafür sein, welche Anfragen auf sie zukommen. Sie müssen darauf reagieren und auch wirklich die Signale wahrnehmen. Als Pendant spielen Betriebsärzte oder Arbeitsmediziner, die Mitarbeitervertretung und der Betriebsrat wichtige Rollen. Zum Beispiel findet hier eine Sozialberatung statt. Wir arbeiten mit einem Netzwerk, in dem einer in der Reihe erfahren wird, wenn etwas schiefläuft.

Sie haben es gerade angesprochen, das BGM muss man individuell betrachten. Was sind denn Merkmale, die ein gutes BGM auszeichnen?

Jeder möchte Kennzahlen haben und wissen, ob sich das BGM sozusagen rentiert. Lohnen sich die Investitionen? Wie kann man das messen? Doch diese Messbarkeit gestaltet sich beim BGM äußerst schwierig. Die Zahl, die jeder im Kopf hat und an der das BGM oft gemessen wird, ist der Krankenstand. Es wird dabei immer betrachtet, wie sich der Krankenstand innerhalb eines Jahres entwickelt hat. Eine nicht eingetretene Reduzierung des Krankenstandes wird automatisch mit einem schlechten BGM verbunden. Diese Sichtweise verfolgen wir in unserem Ansatz nicht.

Der Krankenstand ist nur ein Merkmal von vielen. Dann gibt es noch die Fluktuationszahlen, die Kompetenz in einem Unternehmen und die Maßnahmen, die angeboten werden. Ein wichtiges Merkmal ist für uns die Unternehmenskultur: Fühlen die Mitarbeiter sich wohl? Werden sie wertgeschätzt? All diese Faktoren gehören dazu, sind aber in Kennzahlen oft nicht darstellbar.

Wir überprüfen lieber regelmäßig, wie unsere Angebote angenommen werden. Wir haben entsprechende Feedback-Bögen erstellt oder persönliche Interviews geführt und gefragt, ob das Angebot stimmt und welche Aspekte verbessert werden müssen. Wir versuchen, unsere Maßnahmen sehr gut zu planen und in der Folge immer wieder zu korrigieren und anzupassen. Das ganze Thema Kennzahlen ist schwierig, sodass eine Auswertung im betriebswirtschaftlichen Sinne eher unangemessen wäre.

Dr. Sabine Woltering: Kennzahlen haben ja auch etwas mit Kennzeichnen zu tun. Ein Kennzeichen ist für mich, wie die Mitarbeiter zum Unternehmen stehen. Das merke ich immer wieder im direkten Kontakt. Fühlen die Angestellten sich zugehörig? Haben sie eine intrinsische Motivation und empfinden sie die Arbeit, die sie tun, als wichtig? Wenn wir diese Fragen mit ja beantworten können, dann haben wir ein funktionierendes BGM.

Was sind denn für ein Unternehmen die wichtigsten Vorteile, die durch das BGM entstehen?

Björn Kölking: Ein gutes BGM wirkt sich vor allem positiv auf die Arbeitgeberattraktivität aus. Die Mitarbeiter fühlen sich wohl, wenn die Angebote möglichst passgenau auf sie zugeschnitten sind und sie in den Krisen oder Problembereichen erfolgreich unterstützen. Als Arbeitgeber habe ich dann weniger Fluktuation, weniger Ausfälle. Das bedeutet im Umkehrschluss eine größere Produktivität im Ergebnis.

Und was sind die besonderen Vorteile für die Beschäftigten?

Dr. Sabine Woltering: Wenn ich mir einige Beispiele vor Augen führe, besteht der besondere Vorteil für die Beschäftigten darin, dass wir ihnen ein Netz mit doppeltem Boden bieten. Und zwar auf allen Ebenen: Wir haben Angebote, die die körperliche Fitness betreffen, aber auch solche, die die Kompetenzen unserer Mitarbeiter verbessern. Es wird zum Beispiel nicht passieren, dass eine Ärztin Angst davor hat, erste Dienste in der Notaufnahme zu übernehmen, denn darauf bereiten wir sie vor. Auf allen Ebenen bietet ein gutes und ganzheitliches BGM das Netz, das die Angestellten brauchen, um gesund zu arbeiten und beschäftigungsfähig zu bleiben.

Björn Kölking: Ergänzend dazu: Sollte es zu einer Situation kommen, die den Mitarbeiter aus der Bahn wirft und das Arbeiten nicht unmöglich macht, dann können wir auf Angebote zurückgreifen, die man an vielen Stellen ohne uns nicht bekommen würde. Und das in wahnsinniger Geschwindigkeit: Auf dem freien Markt wäre die Wartezeit, um einen Termin in einer Beratung zu bekommen, erheblich länger. Das heißt, der Betroffene beschäftigt sich noch länger mit dem Problem, fällt vielleicht noch tiefer, baut Fehlzeiten auf und befindet sich in einer Abwärtsspirale. Wir greifen vorher ein, um es gar nicht erst zu diesem Ausfall kommen zu lassen.

Welche Entwicklung erwarten Sie denn für das BGM in naher Zukunft?

Dr. Sabine Woltering: Das BGM wird sich deutlich erweitern, vielleicht auch begrifflich. Das Betriebliche Gesundheitsmanagement findet sicher bald im Rahmen eines Arbeitsschutzmanagements statt, das ganze Thema wird größer und komplexer. Es wird Teil eines Gesamtkonzepts zum Arbeitsschutzprogramm mit dem Thema Arbeit und Leben.

Björn Kölking: Wir müssen weg von dieser Vorstellung, die immer noch viele haben und beim Stichwort Gesundheitsmanagement denken: "Ach, wir bieten da ein paar Rückenkurse an."

Dr. Sabine Woltering: Oder den Obstkorb.

Björn Kölking: Richtig. Wenn wir in den Köpfen der Geschäftsführer verankern könnten, dass es nicht alleine darum geht, wäre das schon ein Erfolg. Das BGM muss umfassender werden, weil die Geschwindigkeit der Arbeitswelt, der Arbeitsumfang und auch die Anforderungen an die Personen weiter steigen werden, und zwar immens. Da müssen wir noch mehr unterstützen oder begleiten.

Dr. Sabine Woltering: Das BGM funktioniert dann als Gegenpol. Auf der einen Seite haben wir die Komplexität, die Geschwindigkeit, die Digitalisierung. Und auf der anderen Seite all diese Maßnahmen, um die Menschen in der Balance zu halten. Stichworte sind hier Entschleunigung, Ruhe, Fokus. Und auch das bietet ein gutes, ganzheitliches BGM: Maßnahmen des Gegenpols. Denn die Zunahme der Geschwindigkeit in der Arbeitswelt können wir nicht aufhalten, aber wir können den Gegenpol so schwer und bedeutsam machen, dass eine Balance entsteht.

Welchen Einfluss auf das BGM erwarten Sie denn durch die Digitalisierung?

Dr. Sabine Woltering: Ich glaube, dass eintreten wird, was wir alle schon längst ahnen, und das ist die völlige Entgrenzung zwischen unserer Freizeit bzw. unserem Privatleben und unserer Arbeit. Diese Entgrenzung muss sich in einem gesamtheitlichen BGM widerspiegeln, auf welche Art und Weise auch immer.

Das ist der Gegenpol, über den ich eben gesprochen habe. Wir können uns, glaube ich, noch nicht so richtig vorstellen, wie diese Entgrenzung genau aussehen wird.

Es gibt diesen Begriff, der immer noch existiert und der auch in Fachkreisen genannt wird: Work-Life-Balance! Aber diese Work-Life-Balance ist eine Utopie. Die gibt es schon jetzt nicht mehr. Und das muss man sich klarmachen.

Björn Kölking: Ein wichtiger Bestandteil aus meiner Sicht ist letztendlich – wie bei fast allen Maßnahmen –, dass wir die Mitarbeiter so mitnehmen und aufstellen, dass sie die Digitalisierung auch umsetzen können. Gerade wenn man sich die Alterskurve anschaut. Wie entwickelt sie sich noch? Für die Youngsters, die jetzt nachrücken, ist die Digitalisierung kein Problem. Aber wie kriegen wir die Mitarbeiter 50 plus mit ins Boot? Wie erreichen wir bei ihnen Vertrauen in die Technik, in die Umsetzbarkeit? Wir müssen sie fachlich schulen und ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie die Neuerungen bewältigen können. Zusammen mit der Entgrenzung wird das eine der größten Herausforderungen.

Dr. Sabine Woltering ist Internistin und Fachärztin für Arbeitsmedizin. Ihre Schwerpunkttätigkeiten sind Betriebliches Gesundheitsmanagement, Mitarbeiterberatung und Aus-, Fort- und Weiterbildung. Seit 2012 ist sie im St. Franziskus-Hospital Münster tätig, einer Einrichtung der St. Franziskus-Stiftung.

Björn Kölking ist Personalbetriebswirt VWA und seit 2010 im St. Franziskus-Hospital Münster beschäftigt. Er ist dort als stellvertretender Personalleiter unter anderem für den Bereich des BGM verantwortlich.